Traduzioni:  



DIE ZIMMER DES HIMMELS

(trad. Tobias Burghard e Rudiger Fischer, Verlag Im Wald, 2008)
ISBN 978-3-941042-07-0
www.verlagimwald.de


 

all jenen, die
durch eigene oder fremde Schuld
das Licht ihrer Freiheit verloren haben

 

„Im Gegensatz zu allen andern
stehen die Dichter
treu zu den Menschen im Unglück
und kümmern sich nicht mehr um sie,
wenn es ihnen gut geht.“

Mori i Po

 

Früher war Iwan Dmitritsch sehr oft Häftlingen begegnet, und jedesmal hatten sie in ihm Mitleid und Verlegenheit erweckt, diesmal aber machte diese Begegnung auf ihn einen besonderen, eigentümlichen Eindruck. Es wollte ihm auf einmal scheinen, man könnte auch ihn in Ketten legen und auf die gleiche Weise durch den Schmutz ins Gefängnis abführen. (...) In der Nacht schlief er nicht und dachte immer, man könne auch ihn in Ketten legen und ins Gefängnis werfen. Er war sich keiner Schuld bewußt und konnte sich verbürgen, daß er auch in Zukunft niemals morden, einen Brand legen oder stehlen werde; aber war es denn so schwer, versehentlich ein Verbrechen zu begehen, und gab es denn keine Verleumdungen oder Justizirrtümer? Nicht umsonst lehrt eine uralte Volksweisheit, daß niemand vor dem Bettelsack und vor dem Gefängnis sicher ist. (...) Menschen, die zu fremdem Leid nur eine dienstliche oder geschäftliche Beziehung haben, zum Beispiel Richter, Polizisten und Ärzte, stumpfen mit der Zeit kraft der Gewohnheit so ab, daß sie sich zu ihren Klienten nur noch formal verhalten können, selbst wenn sie es anders wollten; in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich in nichts von einem Bauern, der (...) Hammel und Kälber schlachtet und das Blut nicht mehr sieht. Bei einem formalen und herzlosen Verhalten zur menschlichen Persönlichkeit aber braucht ein Richter, um einem unschuldigen Menschen die Standesrechte abzusprechen und ihn zur Katorga zu verurteilen, nur eins – Zeit. Nur die Zeit, um gewisse Formalitäten zu erledigen, für die man dem Richter sein Gehalt bezahlt, und dann ist alles zu Ende. Dann suche nur Gerechtigkeit. (...) Ist es nicht lächerlich, an Gerechtigkeit zu denken, wenn jeder Zwang von der Gesellschaft als vernünftige und zweckmäßige Notwendigkeit begrüßt wird, und jede barmherzige Tat, wie zum Beispiel ein Freispruch, einen wahren Strom von unbefriedigten, rachsüchtigen Gefühlen hervorruft?

Anton Tschechow

 

DIE ZIMMER DES HIMMELS
(1987-2000)

 

Alles, was möglich ist

„Fur diese Leute wird getan,
was möglich ist,“
sagen sie von uns,
„damit es ihnen besser geht:
zu essen und trinken
mehr als genug,
hinreichend Schlaf,
ihre Messen, die Bücher,
Stunden der Zerstreuung und der Ruhe.“
Aber unser Dasein
ist ein anderes,
unbeweglich und schmerzhaft.

 

Ordnung

Gitter überall,
ringsum dunkle Höfe
mit hohen Mauern.
In allem herrscht
eine Ordnung, die hier
ganz ungewöhnlich ist,
gleichzeitig getreu und hart,
gekehrt und geputzt wird auch,
was verlassen steht.
Der Geruch eines Käfigs
an der Wand:
Schimmel und Kleister,
drinnen Feuchte und Schweiß.

 

Dieselbe Geschichte

„Es wird versucht,“
so lautet die immer
gleiche Geschichte,
„ihre Lage zu erleichtern,
soweit das getan werden kann.
Aber nein, das alles zählt nicht,
sie haben nicht die geringste
Achtung: Protest,
Beschwerden und Klagen,
ohne Unterlaß
schmieden sie ihre Pläne
eines Komplotts.“
Wieder und wieder
sagt man noch immer
dasselbe über uns.

 

Festungen

Steile Treppen hinauf,
durch die Tür
auf den langen Gang,
den kleine, vergitterte
Fenster erhellen,
dann eine weitere Tür,
Schlüssel drehen sich,
bei jedem einzelnen Durchgang
werden sie vor und hinter einem
geöffnet und geschlossen.
Alte, dunkle Festungen
uralter Burgen,
damit wir büßen
für ihre Irrtümer, wir,
der Abschaum der Menschheit,
wobei das Schicksal sich den Spaß erlaubt,
sie gerade dort wieder zu benutzen,
wo sich die Macht
an ihrem Sitz verschanzte,
in den Palästen, wo die Könige
durch göttliches Zeichen
sich gemeinsam gegen jede Kränkung
verteidigen konnten
und ihre königliche Majestät
umso mehr triumphierte.

 

Hunderte

Hunderte von Männern
jeden Alters,
wie eine Herde
in der Umfriedung,
jeder umgeben
von der Beraubung
seiner Freiheit.
Erloschener Blick,
ein brennendes Verlangen
nach Draußen um jeden Preis,
bis zum Wahnsinn,
eine weißglühende Mischung
aus Sehnsüchten
nach Leuten und Frauen,
Dingen und Orten,
eine Sucht nach allem,
erhaben und unendlich düster,
nach greifbarem Glück...
bei dem, der verwirrt
in sich selber umherirrt, geplagt
von Selbstzerfleischung,
und für den das Fresko des Lebens
schon vertrocknet und verblaßt ist.

 

Vorzüglicher Häftling

Die Wirkung auf mich
ist, daß ich mich müde
wie ein Kranker fühle,
unsicher bin
und langsam, die Gelenke
voller Blei,
erschöpft allein
vom Zuschauersein
in diesem Käfig.
Ein vorzüglicher Häftling
(seine gute Führung
ist oft nur
die Marionettenfassade
dessen, der seine
Verzweiflung verbirgt),
gläserner Blick und
Hände, die sich
willkürlich hierhin
und dorthin ausstrecken,
um die Papiere einer erstrebten,
unwahrscheinlichen
Wahrheit zu ordnen,
in der Erwartung,
daß das Geschriebene
Wirklichkeit werde.

 

Die eigene Wahrheit

Die Geschichte
meines Falls aufschreiben,
auch wenn ich weiß,
daß sie zu nichts anderem dient
als mir selber meine eigene
unsichere Teilwahrheit
zu beweisen,
und nicht nur ich bin schuld
an meinem unnützen Vergehen,
sondern auch das Leben
in seinem brutalsten Teil.
Auch ich bin einmal
sechzehn Jahre alt gewesen.
Das ist ein tragisches Alter,
die große Wasserscheide,
wo eine einzige Erfahrung
dich plötzlich zeichnet
oder zeichnen kann
für deine ganze Zukunft.
Du magst sie sogar vergessen,
aber eines Tages taucht sie
unerwartet wieder auf
und du merkst,
daß du gerade von ihr
auf einen Weg gedrängt
worden bist, auf dem es
keine Umkehr gibt.

 

Gefängnis

Der Tisch und der Stuhl,
das kleine Regal
mit wenigen Büchern
und das Fenster zum Hof,
wo der vorgeschriebene
Gang an der frischen Luft
schon im Gang ist:
jeweils nur ein paar
marschieren gemeinsam
eine halbe Stunde lang.
...und du atmest
und beißt, schluckst
und verdaust,
um dich selber
zu überleben,
taub und stumm
für alles andere,
für die derzeitige
Lage der Dinge,
verwirrt und resigniert,
hier eingeschlossen
wieder zum Tier geworden.

 

Zigaretten

Da umklammert er
mit hastiger Gier
die Zigarette
und zündet sie an.
Eine tiefe Falte
auf der Stirn,
während er einatmet,
um den Durst zu löschen.
„Das ist, als ob sie
mir das Gehirn
zertrümmert hätten...
es ist nicht nur bleich
und zertreten,
sondern zerstückelt
und zerkleinert.“
Der Blick ist sanft,
unverändert, unglücklich,
aber befreit klingt,
was er dem sagt,
der ihm zuhört,
ohne etwas zu erwidern.

 

Betten

Betten nebeneinander
gedrängt,
Betten übereinander
gestapelt,
ohne Distanz
und ohne Pause,
ohne Intimsphäre,
enteignet,
Nummern und Gegenstände
ohne Persönlichkeit.
Väter und Mütter,
Frauen, Kinder und Geschwister
jenseits der Scheibe
versuchen vergeblich,
welchen Irrtum auch immer
wir zu büßen haben,
die Flamme
des Lebens draußen
am Brennen zu halten...
Alles ist fortgerückt,
alles ist weiter weg.

 

Ausbruch

Was ist das für ein Traum,
ein so großes Loch zu öffnen,
daß du, wenn du willst,
hindurchgleiten
und dich zwanzig Meter tief
hinablassen kannst,
mit Hilfe von Seilen,
die du einzeln, wer weiß wie,
entwendet hast...
Von hier aus sehe ich
da drüben ein Haus
an der Biegung des Dorfes
und einen blühenden Baum,
dessen Farbe auffällt
vor der schattigen Mauer.
Dies Pfirsichbaumblühen,
das immer wiederkehrt
und das ich nie
betrachtet habe,
solange ich draußen war,
ist das Symbol dessen,
was mir fehlt
und was ich verloren habe.

 

Warum?

Krampfhaft zuckend und keuchend,
alles zittert,
Glieder Muskeln
Gelenke Lippen und Stirn.
Was kannst du da sagen?
Es gibt keinen Grund
für solches Grausen.
Welche Erklärung auch immer...
Nicht einmal Gott weiß,
warum ich es getan habe.
Du mußt einen Tunnel graben
in das Gebirge
des Schmerzes,
das hier überall lastet,
aber dann stürzt der Stollen
über dir ein
und begräbt dich von neuem
unter dem Schutt.

 

Hier

Hier, wo nichts
passiert, ist die Zeit,
ohne je
gewesen zu sein,
ein Warten ohne Licht
und ohne Ende.
Nur wer im Herzen
der Hölle ist,
weiß, was gegenwärtige
Ewigkeit ist,
für den Verdammten
in tiefster Finsternis:
ein nach innen
umgestülpter Handschuh.

 

Traum

Frei bin ich
nur in den Stunden der Nacht,
solange die Dunkelheit
in den Augen anhält.
Nur so gehe ich aus,
die früheren Freunde zu treffen,
die im Café
Karten spielen,
und dann geh ich
meine Mutter besuchen,
die die Küche
aufräumt
und die Katze füttert.
Und jedes Mal,
wenn ich im Traum wieder
zuhause war,
ist es schlimmer
fortzugehen.

 

Hölle

Wenn ich nur wüßte,
was sich inzwischen
in mir geändert hat,
was ich geworden bin
und ob am Ende
der Schmerz innendrin
alles gewesen ist...
Es kann sein,
daß ich nur aufbegehrt habe
gegen den Gedanken,
keine Zukunft zu haben.
Schon das zu sagen, ist absurd.
Aber wer kann
ohne Perspektiven leben?
Das ist die Hölle,
und nur wer drin ist,
kann das verstehn.

 

Worte

Die Tage, Monate und Jahre
zählen nichts mehr:
sie sind sinnlose Worte,
die weiterhin in den Zeitungen stehen,
oder die dumpfen Geräusche,
die aus der Leere
von Radio und Fernseher kommen,
dieser tönenden Schachteln.
Es gibt keine Zeit mehr
außerhalb der Welt
und ohne Verlaß
auf das eigene Handeln im Raum.
Wer weiß,
was alles noch
da draußen
sich geändert hat
oder für immer vorbei ist...
Du bist nicht mehr lebendig
und doch verblüfft,
daß du nicht stirbst.

 

Schatten

Die schlaflosen Nächte,
Entbehrung und Angst,
der Hunger nach Leben,
der dir den Atem nimmt,
die unten in der Welt verlorene Liebe
eines Mannes oder einer Frau.
Da redet man mit den Schatten,
taube Gespenster
sind alle draußen
und alles, was seither
geschehen ist.
Mit einemmal fangen die Wörter,
schlüpfriger als Würmer,
an den Wänden
zu kriechen an.
Die Stille mag dann
als die einzige Möglichkeit erscheinen,
noch lebendig zu bleiben
und in Sicherheit.

 

Ein anderer Name

Könnte ich nur in das Glas
gleiten oder
in meine Tasse,
mich auflösen
im Geschmack des
eben gefilterten
Kaffees...
ich hätte einen anderen
Namen ohne Leben,
einen Körper ohne Form
in der Spur
des schon Gewesenen,
von neuem da beginnend,
wo alles endete.

 

Allein

Diese Menge an fliehenden,
einander widersprechenden Gefühlen:
jeder Impuls überwunden
und mitgerissen vom nächsten,
der stärker und dunkler ist
und beängstigender...
das schreckliche, peinigende Übel,
mit sich selber allein
und nackt zu sein.
Wir sind für jedermann
ein unerträgliches Ärgernis,
selbst für unsere Lieben,
die sich für uns schämen
und sich verraten fühlen:
gekränkt und betrogen.

 

Wie die Krankenhäuser

Die Gefängnisse sind voll
wie die Krankenhäuser:
Junge und Alte,
Männer und Frauen
jeden Standes
und jeden Alters.
Gequälte Menschen,
leidend,
Rückfällen ausgesetzt,
viele unheilbar krank.
Die einzige Behandlung
ist hier die Strafe,
aber diese Therapie
wirkt nicht immer.
Und wir Schuldige,
die ihr einstweilen
wie Tiere behandelt,
wir sind keine Bestien
und keine Ungeheuer,
von denen ihr euch
hinter dem Schild
des Gesetzes befreit habt.

 

Die Abmachung

Nein, es geht nicht
um Zersetzung
und Verfall,
die Krankheit einer Epoche
oder den Krebs einer Gesellschaft.
Immer war und vielleicht
wird immer sein das traurige Leiden
der Welt, das harte Leben,
dem man sich stellen muß.
Aber was heißt da strafen?
Das ist eine Abmachung:
gerichtet wird über die Tat,
nicht die Person.
Und eine einzelne Handlung
entspricht nicht dem Menschen,
sie kann ihn nicht verkörpern
und erst recht nicht auslöschen.

 

Parteiisch

Auch für den besten Staatsbürger
und im Bezug auf Ideale
und Menschlichkeit
sind wir nicht gleich,
weniger denn je,
vor dem Gesetz.
Richter und Rechtsanwälte,
Zeugen und Geschworene,
fast alle parteiisch,
befangen, beeinflußt,
nicht zu erwähnen
die Heuchler und Meineidigen,
die Schwachen und im voraus
Gekauften, die Zyniker
ohne Achtung, die vorgeben,
allwissend zu sein,
oder, noch schlimmer,
all die vermeintlich Reinen,
die nicht Verseuchten.

 

Der Rechtsanwalt

Ein Richter
setzt als sicher voraus,
daß das Vergehen
eben vom Verdächtigen
begangen worden ist.
Er hat alle taktischen Vorteile
auf seiner Seite,
um dieser These
Geltung zu verschaffen,
die dich aufgegeben hat,
wenn nicht neben dir
ein zynischer,
geschickter Verteidiger steht.
Der Rechtsanwalt
ist deine Unschuld
oder deine Schuld,
und je unschuldiger du bist,
umso weniger kommst du
ohne ihn aus.

 

Schweigen

Die Anklage, gewappnet
gegen jeglichen Einwand,
Fragen über Fragen,
Tag und Nacht
Drohungen und Versprechen,
alle Mittel, um dich
in deinem Widerstand zu schwächen,
einschließlich der Herablassung,
bis dein Gehirn
ein schmerzender Haufen ist.
Nun siehst du,
spürst du,
empfindest du
nichts mehr. Verzichtest
auf jede Verteidigung.
Und schweigst, weil alles
gleichgültig wird
im Frieden des Schweigens.

 

Der Urteilsspruch

Der Urteilsspruch
ist für euch da draußen
die Befreiung.
Nun sind wir endlich
aus der Gesellschaft verstoßen,
und hier drin wird jemand anderes
sich um alles Weitere kümmern.
...so schlimm
ist es ja nun
wirklich nicht,
man paßt sich an,
alles ist eine Frage
der Gewohnheit,
die Gefängnisse sind Gasthäuser,
wo man Urlaub verbringt,
das Gesetz folgt
dem Zeitgeist,
in unsrer Lage
gibt es keine
Sorgen mehr um Geld
oder Arbeitsplatz,
nur Ordnung und Ruhe...
Diese ungebührlichen Worte
behält man uns vor.

 

Erste Nacht

Die erste Nacht
hier im Gefängnis,
zusammen mit Dieben
und Beschützern,
Gestank und Schmutz,
brutalste Erniedrigung,
als wäre ich
gegen die Wand gefahren.
Ich faßte mich nur schwer,
oder vielleicht ist es eine Illusion,
daß man sich von einem solchen Schlag
erholt... jeder Würde,
und sei es auch nur in der Schuld,
beraubt, nackt zurückgelassen
und ohne Schutz
vor der von mir
begangenen Tat.

 

Distanz

Der rauhe Ton
der Wächter oder schlimmer
ihre Vertraulichkeit
voller Sarkasmus...
wir haben hier jedes Recht
auf Achtung verloren.
Endlich können sie
rückhaltlos
über den spotten,
der den Eindruck gemacht hatte,
er schere sich nicht um sie.
Fast Klassenhaß...
als wäre es ein Verstoß,
Freundlichkeit oder
Verständnis zu zeigen,
der Aufenthalt hier bewirkt,
daß man bereit ist,
alle Gefühle zu ersticken,
um nicht der Umgebung
den geringsten
Verdachtsgrund zu liefern.

 

Angestellte

Immer mehr nimmt
die Gewähr des Gesetzes ab,
geht schließlich ganz verloren,
die Pflicht trennt sich auf,
und schon der Verdacht
ist ein Beweis...
Mit Verdruß
behandeln uns
die Untergebenen hier,
als wäre es ihnen ein Vergnügen,
auf uns herabzuschauen
von ihrem Leben aus,
das dunkel wie die Zellen ist,
die sie überwachen,
immer mit der Last der Abweisung,
wie unser finsteres Schicksal,
das nun in ihren Händen liegt,
kaum tröstet sie
die Illusion der Macht.
Keiner glaubt
an eine Mission,
jeder, und wie alle andern
auch der Priester,
ist nur ein Angestellter,
der unwillig
die Stunden abarbeitet,
die man ihm bezahlt.

 

Privilegien

Geschmeichelt und erleichtert
aus irgendeinem andern Grund,
wer weiß mit welcher
wahren Absicht,
im Austausch gegen
ein Zugeständnis.
Wer hat nicht gebettelt
oder verhandelt,
um hier drinnen auch nur ein bißchen
mehr zu bekommen
als was uns offiziell
gewährt wird von dem,
was zumindest für uns
so wesentlich ist?

 

Verurteilt

Was anfangen
mit der Freiheit...
das Leben ist ein Fluß,
der im Schlamm versickert.
Wozu ist es gut?
Wenn es dich dahin gebracht hat,
wo du endest,
ohne angekommen zu sein.
Immer mehr wirst du
zu einer Null:
du bist nicht länger
Vater oder Sohn,
du bist nichts mehr.
Du bist nur ein Verbrecher,
der verurteilt wurde.

 

Die Zeit

Die Zelle wird für dich
doppelt so groß,
das Fenster wird enger,
und dein Kopf schwillt an,
als würde Gas hineingepumpt.
Und wohin gehn
die Jahre? Wie erlebst
du sie nun nicht mehr?
Das Vergehen der Zeit
ist hier nur der Tropfen,
der dich höhlt.
Es ist natürlich,
daß der Sinn des Lebens
verlorengeht,
du bist dir bewußt,
daß er dir abhanden kommt,
und der Schrecken der Zeit
raubt dir die Nerven
wie auch der Gedanke,
daß draußen
etwas geschieht
und dir vorenthalten wird,
zwar durch deine Schuld,
aber dir entrissen,
als du dich schon daran
gewöhnt hattest.

 

Wenn

Die Qual
des „Wenn“ und „Aber“,
daß alles
anders
gelaufen wäre...
Hoffnungen und Wünsche
gehen auf dem Weg
schnell verloren,
die Erwartungen
schrumpfen,
nichts Erhabenes
hält hier stand,
es wird sofort
zu grobem Zeug.
Und selbst die Erinnerungen,
diese Feuerdrachen,
rauben dir den Atem.
Aber das Bild wird unscharf,
zerbröckelt
und ist plötzlich
sehr fern.

 

Zu spät

Die schmerzliche Erinnerung,
zu spät gekommen,
alles Vergessene,
das dich dagegen hier
gerettet hätte. Aber
es gibt kein Zurück,
es ist immer zu spät
zum Wiedergutmachen...
so ist es gewesen,
ein für allemal.
Kein Aufschwung, nein,
nur die materiellen Bedürfnisse:
trinken und essen...
Das Übrige ist Anachronismus,
träge, begrenzte Leere.
Ja, Weinen und Lachen
sind für uns
da draußen
weggeschlossen.

 

Übermaß an Leben

Manchmal genügt ein Lied,
ein Schluck Wein mehr
oder die unerwartete Szene
im Fernsehen,
und schon spürst du
schmerzlich
das ungefilterte Leben,
und mit blank liegenden Nerven
erträgst du nicht länger
seine überschäumende Energie,
die Flut seiner Verheißungen
und die sich öffnende Weite...
du hältst es hier nicht mehr aus,
kannst aber nicht entkommen.

 

Tropfen

O so gepolstert
mit Arzneien und Tropfen,
des Nachts und des Tags,
verwirrt und immer mehr
in der Schwebe... träg das Gehirn,
das allmählich geronnen ist,
die Augen geschwollen,
doch keine Möglichkeit,
mich auszuweinen,
das Denken unbeweglich,
mit der leeren Gestalt verbunden,
die dort ins Leere starrt
und nie enden will,
und es gelingt nicht mehr,
wer weiß für wie lange,
zu schlafen.

 

Ein schnellerer Weg

Die Notwendigkeit
entsteht aus dem Unbehagen,
der Wunsch zu sehn,
ob es einen schnelleren
Weg gibt, um
nicht zu sehen,
an deinen Schmerz
nicht zu denken
und die Welt zu erobern,
die inzwischen
deinen Händen entgleitet,
und dann zusammenzubrechen
im noch schlimmeren Unglück,
im Dunkel, das dich überflutet
mit seiner Farbe
und in dir
das Beste auslöscht.

 

Das Zeug

Wieviel Zeug
in diesem Käfig
kreist.
Falls du Geld genug hast,
kannst du es im Flug fangen,
und für eine Stunde, wenn du willst,
erwartet dich die Flucht.
Aber immer pünktlicher
kehrst du zurück
an den Arsch der Welt,
der nicht aus Zufall
zu deinem Herrn wird.
Und wozu ist es gut,
wenn du von hoch oben
auf die Erde herabfällst
und der Ausfluß dir
vom Mund
in die Nase steigt?

 

Gewohnheit

Die Gewohnheit
wird Tradition
und ist das Wichtigste,
das, was dich rettet
in der Reihung
jeder Geste
vor dem weder Gesagten
noch Getanen, oder dem zu spät
oder nur zur Hälfte
Getanen und Gesagten.
Und zum Schluß
rettet sie dich wirklich
und du kannst wieder schlafen.

 

Kalte Hände

Meine Hände sind kalt,
auch wenn ich versuche,
sie zu wärmen,
voller Sand,
das Wasser fließt darüber
und reinigt sie nicht,
sie sind honigverschmiert
ohne Honig,
ich gebe mich der Ruhe hin.
Ich bin das Thermometer dessen,
was ich gegen meinen Willen
geworden bin.
ein träger, grober,
klebriger Körper.

 

Eine Zahl

Du bist jetzt eine Zahl,
keine Person mehr:
zwischen dir und deinem Innern
hat sich etwas aufgelöst
und ist verschwunden.
Es ist, als habe
dein Ich
seine Form verloren,
nach Tagen über Tagen
des Eingezwängtseins,
abgetrennt
vom Innersten dessen,
was an dir lebendig ist.
Aber das weiß man ja:
man kann die Auswirkungen
eines Verbrechens
auf das Gemüt
nicht der Gemeinschaft
zuschreiben.

 

Qual

Die Frau, die ich
einmal liebte,
das Mädchen
mit schwarzen Augen,
das mich für immer
verlassen hat.
Der Gedanke,
sie nicht mehr zu sehen...
Das ist hier
meine Qual:
ein Sterben ohne Tod,
eine Zeit,
die langsam vergeht
und gar nicht da ist
und nicht enden will,
das Wissen, daß es von nun an
keine Türen mehr gibt,
durch die ich hinausgehn kann.

 

Schuld

Die Schuld ist meine:
ich weiß es,
ich bin verdammt.
Aber dieses Warten
zu ertragen
ist stärker
als alle Gründe,
die du begreifst.
Der Körper widersetzt sich
und erst recht der Verstand,
schon vor dem Körper,
und das Herz ist davon
ganz leer geworden.
Du wirst zur Beute
der Schrecken des Nichtmehr,
des Niemehr so,
wie es war.
Alles Wasser des Lebens
ist dir entzogen worden.

 

Haß

Und was sagen sie dir,
blind für unsern rauhen Durst
nach Freiheit?
Daß es nicht mehr ist
wie in früheren Zeiten...
daß die Strafanstalten
berüchtigte Höllen waren,
die Wächter
wahre Folterknechte...
daß unsre Gesellschaft
zivilisiert ist
und die Behandlung eher
zu human.
Da konzentriert sich
all der unendliche Haß.

 

Ausgeschlossen

Du bist mit dir allein.
Ausgeschlossen,
zusammen mit andern,
die allein sind wie du,
von der ganzen Welt.
Eingesperrt,
in die Zelle gezwängt
wie in eine Schachtel
aus Blech,
aufbewahrt in deinem
Verlorensein,
die Decke lastet
auf deinem Kopf,
der Boden
versinkt
unter dir,
die Wände rauben
dir den Atem.

 

Ohne Bedeutung

Tausendmal wiederholst du
denselben kurzen Satz,
du klopfst mit den Fingern
auf den Tisch
oder an die Wand
und bemühst dich,
das Jetzt vom Vergangenen
zu unterscheiden,
diese Flut aus Tönen,
Schatten und Gestalten
ohne Zeitmaß,
wo alles
vermengt ist,
alles zu Asche geworden.
Die großen Errungenschaften
des Geistes,
hier unten
bedeuten sie nichts,
da herrscht
die Gemeinheit:
man will das Böse nicht,
es ist einfach da.
Auflösung,
unendliches Dunkel...
das Ende
aller Werte
des Lebens.

 

Im Käfig

Die Pupillen erweitert,
immer starrer,
immer dunkler,
die sengende Wut
dessen, der sich
nicht mehr denken,
nicht mehr spüren kann,
ich gehe nur noch
auf und ab
wie ein Löwe
im Käfig,
mit den Zähnen knirschend,
ich kratze an den Wänden
und schürfe mir die Hände auf,
den Blick nach oben gerichtet...
aber vielleicht besteht
auch der Himmel aus Zimmern,
und man kann nicht
mehr als eins bewohnen.

 

Geheimnis

Ich kann mir selber
nicht erklären,
wie dem jetzigen Ich
in seinem Verbrechen
ein kindliches Gemüt
bleiben kann
und daß es beharrlich
fortfährt, in der Schuld
seines gestrigen Handelns,
die Träume zu nähren,
die Pläne,
die Gedanken...

 

Selbständigkeit

Das weiß man,
ihr ladet hier drin
alle Abfälle
der Menschheit ab.
Aber hier wachsen Pflanzen,
die ihr draußen
noch nicht kennt,
es geschehen Dinge,
die man in einer Zwischenwelt
unterbringen muß,
kilometerweit entfernt
von eurer.
Hier ist alles so weit
und gleichzeitig
so eng,
so mächtig
und doch so leer...
Ihr sagt zu uns: „Ihr habt
den richtigen Zeitplan,
reichlich zu essen,
seid vor allem geschützt.
Was fehlt euch denn noch?
Einfach nichts.“
Ganz selbständig
handelt in der Tat,
wer sich selber zerstören kann,
das verbrecherische Ich.

 

 

DER DURST, DAS VERLANGEN

Gibt es denn keinen Weg,
der mich zurückführt?

 

Abgeschnittenes Leben

Es war nicht Neugier
und nicht Langeweile,
was mich in die Irre
getrieben hat...
vielmehr hat das präzise
Bewußtsein
meiner selbst und der Welt
die unbekannten Schritte
meines Sturzes
gelenkt.
Die Welt und ich
entsprechen sich genau:
Stein ohne Mund
und Mund ohne Wort,
soviel ich auch strebe
und suche.
Anstatt zu fliehen,
bin ich ihr
entgegengegangen,
habe aber nie etwas erlitten
oder aufgegeben.
Ich habe immer gewählt,
und ich habe angegriffen,
schließlich mich selber...
und auf nichts verzichtet.
Ich habe gewählt und geliebt,
Fehler gemacht, ja,
und nachdem ich es gepackt habe,
habe ich ihm ins Gesicht gesehen,
meinem abgeschnittenen Leben.

 

Über der Welt

Hoch oben scheitern,
über der dort unten
ausgebreiteten Welt,
über den andern
sterblichen Wesen...
Sie steigt in dir auf,
du legst dich
auf den Samt
und schwebst fort,
fliegst auf dem Teppich,
allein und verloren,
riesig am Himmel.
Ein helles Schwert
durchdringe dich,
durchbohre dich
durchschneide den Faden,
trage dich weit weg von allem,
aber nie von dir selber.

 

Flucht

Aber nicht weil
unverstanden
und ungeliebt,
schwach vielleicht,
aber kein Opfer,
allem fremd
und gewiß auf der Flucht,
einer, der den Rausch
des Entkommens
zur Leere hin spürt,
in den Armen
seines Nichts.
Um allein zu leben,
um von ihr zu leben,
die Wüste
hinter sich lassend,
die Seele,
im Austausch gegen
ihr auf freiem Feld
blinkendes Licht.
Bleich, dahinschwindend
wie ein Gespenst,
das Dunkel in den Augen
und im Kopf
den Klang der Stille.

 

Nacht

O meine Nacht, verschieden
von allen andern
Nächten der Welt,
ewig
lichtvolle Nacht
in ihrer verschlossenen,
blitzenden Ferne,
Gesang und Harmonie
atmen
in deiner Stille,
und dieser Atem breitet sich aus,
schwillt unendlich an:
das ganze Sein
nicht länger verringert,
der versunkene Abgrund
von seinem Einsturz gefüllt.

 

Ohne sie

Ohne sie
der Durst, das Verlangen:
eine tiefere Leere
als all die Fülle,
die die Welt hierher
ausgespieen hat.
Bohren der Nadel,
Eindringen ins Fleisch,
das Blut in der Vene
aufzusaugen,
und dann gleitest du
wieder, ganz leicht,
sie streichle die Nerven,
schwebe darüber
mit langsamem Dunst
ins Gehirn:
Geruch
eines ewigen Dufts
in voller Blüte,
über den jäh
der Winter hereinstürzt.

 

Alles Übrige

Nur sie zählt,
seit sie in deinen Körper
eingedrungen ist,
dort Wurzeln schlagend,
die du nicht mehr
ausreißen kannst,
so tief haben sie
sich eingegraben.
Seit
jenem Augenblick...
alles Übrige
wird dir zum Überdruß:
sie genügt dir,
um auf der Welt zu bleiben
und deinem Schweigen
eine Stimme zu geben
und dem Dunkel scheinbares Licht,
das dir das Herz erfüllt.

 

Geliebte

Das ist eine beständige Rückkehr
zu deiner Geliebten,
die du erträumtest,
der du folgtest, ohne sie
erobern zu können.
Und wenn sie geht,
leert dich ihre Ferne
bis auf den Grund des Blutes
im innersten Innern,
sie macht dich trübe,
ohne anderes Verlangen
als das nach ihr.
Jeder kleinste Teil
deines zerrissenen Ich
ruft sie, fleht sie herbei,
um von ihr erfüllt zu werden.
Dein Herz beginnt zu rasen,
kalter Schweiß bricht
aus deinem verheerten Körper,
und die Kehle schluckt wild,
weil eine Welle aufsteigt
vom Magen her
mit dem Brechreiz,
zwischen den Nattern
des gefräßigen Übels,
das dich verschlingt,
um deinen Hunger zu stillen.

 

Traum

Aber ich vergieße
keine Tränen über mich,
ich hab nie Hilfe verlangt
und weiß, wenn du einmal
infiziert bist,
wirst du nicht mehr geheilt,
auch wenn du aufhörst,
und selbst als Geheilter
bist du weiterhin krank.
Ich erkenne meinen Irrtum
und weiß sehr wohl,
für jedes Gramm Genuß,
wie viele Zentner Schmerz,
Erbrochenes und Überdruß
es gekostet hat,
wieviel Hölle ich
für jedes bißchen Paradies
durchquert habe.
Aber es war
mein Traum,
die Freiheit loszubinden
von den Fesseln des Körpers,
der mich verraten
und angekettet hat
von hier bis ins Unendliche.

 

Wie eine Wüste

Sie verschluckt mit einem Zug
jedes Wort,
jeden Gedanken,
den du eben
noch dachtest...
wie eine Wüste
verzerrt sie die Wirklichkeit,
nimmt ihr die Umrisse,
schafft fremdartige Bilder
und finstere Intrigen...
im Lauf der Nacht
lösen sie sich auf, verschwinden
ohne jegliche Spur
im offenen Nichts,
das sie nacheinander
hervorgebracht hatte.

 

Dein Geheimnis

Drinnen diktiert
die dunkle Stimme
und löscht dir den Himmel aus,
die Straße und das Haus,
in dem du gelebt hast,
die Gesichter der Lieben...
Ein Abgrund ist
zwischen dem, was sie verheißt,
und dem, was sie wirklich gibt:
ein Schlund,
der sich nicht füllen läßt,
der dir soviel entreißt,
wie er dir versprochen hat.
Und doch, obwohl du das weißt,
stürzt du dich hinein,
in seine Tiefen,
und das ist der Abgrund
deines Geheimnisses.
Außerhalb der Welt.

 

Künstlich

Sie verstärkt
deine Gefühle
und läßt sie dann in sich
zusammenstürzen,
das künstlich gewordene
Verlangen,
das Bedürfnis
nach erzeugtem Bedürfnis,
Sklave deiner falschen
Identität.
Sie wirft dich in die Hände
der Lügen und des Nichts,
entfernt dich
für immer
von deiner Regie,
macht dich verletzlich,
während du glaubtest,
du seist allmächtig.
Sie beschleunigt dein Leben
in der Besessenheit,
sie tut dir Gewalt an
und zersetzt dir
Raum und Zeit
und ihre Bedeutung,
beraubt dich der Wirklichkeit
und täuscht dir vor,
sie schenke sie dir überreich.

 

Entkommen

Ich möchte allen Orten
meines Lebens
entkommen,
fortgehn, weil
mich entsetzt,
was geschehen ist.
Nicht der Schmerz
hat mich verstummen lassen,
ich ertrage nicht länger
diese unendliche
Einsamkeit...
wo ich doch kaum
mit der Partie
begonnen habe.
Mich tröstet nicht
der Gedanke an
eine weitere Chance.
Ja, ich möchte jetzt
die Hölle der verlorenen
Zeit verlassen,
versuchen, vom Fliegen
herunterzukommen,
aber allein gelingt es mir nicht
aufzuhören.

 

 

 

 


  Paolo Ruffilli Mail: ruffillipoetry@gmail.com