FREUDE UND TRAUER
(trad. Tobias Burghardt und Rüdiger Fischer
VERLAG IM WALD, 2005)
ISBN 3-929208-63-6
www.verlagimwald.de
FREUDE UND TRAUER
Leiden und Tod durch Aids
für meine Tochter und alle Kinder der Welt
„In Wahrheit
wird letzten Endes,
bei Geburt und Tod,“
hat meine Tochter
weinend zu mir gesagt,
„die Würde des Lebens
auf der Welt
nicht im geringsten geachtet.“
...nur das, was du wirklich liebtest
wird dir nicht entrissen werden
was du mit ganzem Herzen liebtest
ist dein wahres Erbe
E. Pound
Das Entbrennen und das Verlöschen
(durch Zufall?) des Lebens,
der Leuchtschweif,
das Kielwasser
hinter dem,
was gewesen ist,
gekannt und geliebt,
um dann verlorenzugehn,
Freude und Trauer:
alles geworfen
in das blinde Gefäß
in den Händen des Dunkels.
Aller Dinge
verwelkte und doch
wieder erblühte Spur.
So heruntergekommen,
zerstört: er, der Verstoßene,
von der Straße Verschluckte,
Drogensüchtige. Jetzt verloren,
auch in diesem Bett,
zusammengerollt
unterm weißen Tuch,
abgezehrt, ergeben
auf der Seite liegend.
Nur noch die Hälfte und weniger
seiner selber,
abgemagert in zu weiten Kleidern,
gealtert, hinfällig
in der Blüte seiner Jahre,
in der Mitte eines
schon verwelkten Lebens.
Nun nichts mehr aufnehmend,
ohne Halt an der Umgebung,
nicht einmal
am bleichen Licht
des Tages. Frucht ihres
Leibes, Fleisch ihres Fleisches,
während sie dasitzt, gebeugt
über das stumme Bündel,
bemüht, ihm endlich
zum Frieden
zu verhelfen.
„Trotz allem, was war,
mein geliebter Sohn,“ das Stöhnen
nicht länger zurückgehalten
in der Stille, die
dem Zusammenbruch vorausgeht.
Es verfolgt
die Jüngsten,
zerstört die
Kräftigen, es
spottet ihrer,
quält und löscht
sie aus, es achtet
nicht auf Verdienst
oder Alter, schleift
hinweg die ausgesuchten,
bevorzugten Opfer, raubt
und plündert, verwüstet
mit seinen Klauen die ihm
Genehmen. Die Rollen
sind nun vertauscht:
die Väter begraben
die Söhne, sie kümmern sich
um das verlorene Leben,
sie halten die Verletzten
in ihren Armen, sie
wachen bei den Sterbenden,
haben keine Angst mehr, wohnen
ohnmächtig dem Todeskampf bei
und spüren weinend, wie sie
ihnen entrissen werden.
Und alles drängt sich, läuft umher,
dreht sich im Kreis
...gekommen, gegangen,
verschwunden, erschienen,
überwunden die Dinge,
gesehen, verflogen...
Oh welch ein dunkler
dumpfer Morgen steigt herauf,
umhergeschleudert
und stumm im Wind
auf der Bühne der Welt.
„Was draußen
geschieht,
geht mich nichts an.
Ich bin nun verschieden
von den übrigen Leuten,
mein Weg und ihrer
haben sich getrennt,
ich bin vom Leben
ausgeschlossen, hab Mühe,
es in Besitz zu nehmen,
bin unwiderruflich entlassen.
Ich fühl mich verloren
inmitten des Kommens
und Gehens der Menschen
in diesem vollen Korb
meines Zimmers,
und der Grund dafür ist,
daß sich zwischen mir
und den Dingen rundum
so gut wie blitzschnell
ein weiter Abgrund
aufgetan hat,
den nichts
zu überwinden vermag.
Was ist? Was tust du?
Ich befrage weiter
mein Bewußtsein,
doch ich kann ihm jetzt
nicht helfen,
ich dringe nicht mehr
durch die Schichten
aus Leere und Festem
des schon Gewesenen.
Es gibt vielleicht kein Zurück
vom Ende.“
Das Leiden hat ihn
Stück für Stück aufgezehrt,
es hat ihn ausgehöhlt,
verkürzt, in den Zustand eines
vollkommen abhängigen Kindes
zurückversetzt.
Mit der schon damals
ihm eigenen Art
sieht er, wie der Vater,
vorher so distanziert,
von neuem allmächtig
geworden ist, zu ihm
zurückgekehrt,
der zu allem bereit ist,
um aufzuhalten,
was wütend
ihn angreift,
mit verstörtem,
durchsichtigem Blick
Trost sucht
und Linderung der Qual,
voller Schrecken
noch flehentlich
drum bittet,
gerettet zu werden.
...die laufende Bewegung
dieser langsamen Phase,
der kurze Atem
des Lebenden,
der sich anschickt
hinüberzugehen,
der eben dabei ist,
sich zu entfernen...
„Die Welt verbannt
mich stufenweise,
entmachtet
Stück für Stück,
nimmt mir die Stimme
und Kraft zu handeln,
sie trennt, schließt aus
vom natürlichen Rahmen.
Sie hat mich schon verraten,
die frühere Geliebte,
sie ist zur grausamen,
erbitterten persönlichen
Feindin geworden.
In diesem Gefängnis
werde ich
künstlich bewacht,
während alle anderen,
Freunde, Ärzte,
Krankenschwestern,
draußen ein andres Leben haben,
das Krankenhaus verlassen,
für sie ist der Weg
unbegrenzt frei,
so weit sie wollen.
Ich weiß, ich gehöre
in keinerlei Hinsicht
noch länger zur Gruppe,
das spür ich am Chor
der ermunternden Reden,
am flackernden, unsicheren Blick
dessen, der mich anschaut,
und – was am härtesten,
am schmerzlichsten ist –
am Sprung in den
erschöpften Worten
meiner Mutter.“
Wut und Angst
verzweifelnd, verzweifelt,
Trostlosigkeit, zu Recht
oder zu Unrecht, Aufruhr
und Zorn, in gesammelter,
schon schweifender Empörung,
überstürzt,
nicht länger verborgen,
von nun an, für immer
ist Anlaß dafür.
Von neuem so harmlos
und wehrlos
wie ein Neugeborenes,
der Pflege bedürfend
und der Ruhe,
gefüttert, versorgt
und überwacht
in jedem Augenblick,
bei jeder Bewegung.
Jetzt fühle ich mich
wieder denselben
Ängsten ausgeliefert,
die ich früher
oft verspürte,
und es gibt nichts,
das nicht beunruhigend wäre
und nicht zur Frage führte,
ob er, in seinem jetzigen
Zustand, mich hört,
ob es ihm heiß oder kalt ist,
ob er Schmerzen verspürt,
ob er noch atmet
oder ob er durchnäßt ist.
Ich seh ihn vor mir
gleich nach der Geburt,
als wäre es jetzt.
Ich war nicht imstande,
ihn zu versorgen,
sogar zu ungeschickt,
um ihn zu halten.
Ich war die Quelle
der Angst davor,
ihn loszulassen
aufs Leben, ihn,
der so selig war.
Allmählich schloß ich
mich selber, den Eindringling,
von der langen Reihe
der Fläschchen und Windeln aus,
verlor dann
das Gleichgewicht
und fühlte mich schließlich
beeinträchtigt,
trieb langsam fort
an seine Grenzen.
„Ich glaubte als Kind,
nicht sonderlich
erwünscht zu sein.
Als störte ich
einen Takt, den ich
nicht einhalten konnte,
ängstlich behandelt
oder eben ertragen.
Mir schien, als höre
man mir nicht zu.
Ich wuchs auf gut Glück
in eigenartiger Weise:
Papa war ungeduldig,
sehr fern, auch wenn
er immer in der Nähe war,
Mama nervös und anmaßend
in ihrem Gefühl,
sie habe mich in der Hand,
ich gehöre ihr,
die an alles dachte,
Herrin meiner Träume,
gewillt, sich ganz allein
um meine Wünsche
und Bedürfnisse
zu kümmern.“
Was du liebst,
dem Leib zu entreißen,
in dem es sein Nest hat,
ist so, als zerre man
die Eiche aus der Erde:
es taucht seine Zweige
in verborgene Schichten,
die dunklen Haargefäße
auf der Suche nach Nahrung
und Unterstützung.
Doch nie kann ein Ruck,
so gewaltsam er auch sei,
das Fundament im Innern
entwurzeln.
Die Kraft, die hereinstürzt
und es packt,
rückt die Basis
von ihrer Mitte weg,
zerschlägt, zertrümmert
ganze Schichten, zerreißt
viele der Arme,
die dort hängenbleiben
in der Kaskade
der schwarzen Fasern,
und legt bloß,
mit allem Schmutz,
mit der verfaulten,
eitrigen Materie,
mit der Verwesung die Reinheit,
ein ins tiefste Innere
vorgedrungenes Gut,
gedeihend
in entlegenster Leere,
wo, gegen Einbruch
und Irrtum geschützt,
das Leben wurzelt.
„Es gibt für mich
nichts mehr zu tun,
trotz aller Bemühungen
und wiederholten Bestätigungen.
Und wer mich Tag
und Nacht betreut,
ist schon fern,
in die Gegenwart gesunken.
Die Behandlung
hat nichts bewirkt,
noch wird sie bald
oder später
etwas bewirken.
Ich spüre den stummen Eifer,
die betrübte Munterkeit
der Krankenschwester
und die Beweise der Zuneigung
der Meinen um mich her,
die verweinten Augen,
wie abgewandt, um
ihre Ahnungen
und den verzweifelten Zustand
meiner Gesundheit
vor mir zu verbergen,
vergebens,
denn ich bin mir sehr wohl
des Ernstes der Lage
bewußt geworden.
Wir verlieren
gegenseitige Gelegenheiten
für das Wenige, das mir bleibt,
und bevor es unmöglich wird,
will ich nach Hause
in mein eigenes Bett,
zu den Orten,
die mir vertraut sind.
Um den Schmerz
in Tröstung, gar in ein Fest
zu verwandeln
für diese Menschen,
die aus Liebe lügen.“
Sicherer Hafen
und Stütze des Tages,
begierig wendend
beim Sprung in den Brunnen,
inmitten der Wellen
zerstörte Ufer
am blendenden Grund,
indessen er dämpft,
er daliegt, er fliegt,
ergeben, rebellisch,
hinunter hinauf,
zum Hades, zum Himmel,
kippend entgleisend,
Starre und Wallung,
mit wirrem Gewicht,
der stampft und der hüpft,
sich faltet, sich aufklappt,
der reitet, sich anstrengt,
nun Flut überm Herzen
einer Nacht des Friedens
am geschlossenen Rand,
der Raum, der noch standhält,
gefangen, geführt,
nach unten nach oben.
Der ihn beschütze,
der ihn bedecke...
Es ist die andere Seite,
im Schatten
des Lebens, der Hauptteil,
nicht wahrgenommen,
dem Gesetz offensichtlich
zuwider, Pol und
Magnet, der die Körper
zu Boden zieht,
sie in den Armen hält,
sie stützt und sie trägt,
Basis und Sockel
für Abgelagertes
und wohl in einen reinen
Zustand Versetztes...
das nun die Welt
gestaltet, bewegt,
nachdem es die Rast
erzwungen, die Regung
gehemmt hat, größerem
Aufschwung zuliebe:
federndes Sprungbrett.
Die Blüte des Lebens
erstarrt, schon lange
bevor sie gereift ist,
und gießt von enger Spitze
die rauhe Fläche
zerfetzender Dornen.
Zu müde ist er,
um vorwärtszuschauen
– ihn blendet geringster
Lichtschein – und weiter dort
am Grund des Bettes
für seine Zukunft zu kämpfen,
nun auch eine Feindin
zu verteidigen. Die Schlacht
ging klaglos verloren.
Er liegt auf der Seite,
zur Wand gewendet,
und selbst das Atmen
fällt ihm schwer. Welche Falte
auch immer er glattstreicht,
er spürt, wie von
dem schweren Knoten
in seiner Brust
nur das Verlangen aufsteigt,
endlich der Herrschaft
des dunklen Stromes
ausgeliefert zu bleiben,
der ihn, den Ertrunkenen, fortträgt.
Warum ich mich
nicht vorher
bemüht habe
zu begreifen?
Es ist meine Schuld.
Die Ströme von Worten
dir, der du von mir
Unterstützung erbatest,
Zuneigung fordertest,
tatkräftiges Handeln.
Anstelle von Verständnis
gab ich dir Predigten:
Denksprüche, Vorschriften
und Ermahnungen.
Ich hab dich verraten
in deinem Streben,
mich zu meinem Bedauern
der Gier der Welt
und ihren Bräuchen gefügt.
Ich hab dich allein gelassen.
Schlimmer, ich hab dich
verstoßen, geschmäht.
Aus Trägheit ins Schleudern
geraten, in Nebensächlichem
versinkend, überzeugt,
dir Schlauheit anzuerziehen.
Du gingst nicht verloren,
nein, ich bin es,
der dich verlor.
„Wie hart zu entdecken,
daß du ihre Erwartungen
enttäuscht hast und
überhaupt nicht so bist,
wie sie gehofft hatten,
daß du auch nicht entfernt
der klaren Vorstellung gleichst,
die sie von dir hatten.
Und wie schmerzlich,
ihnen wehzutun,
eben aus Liebe,
um sie nicht zu betrügen,
und ihnen gänzlich den schon
vergeblich geleugneten
Zustand zu offenbaren,
die entsetzliche Wahrheit,
im Bewußtsein, sie
zutiefst zu verletzen,
und doch nicht
anders zu können
als sie zu quälen.“
So widerspruchsvoll
ist die Wirklichkeit,
Leere und Fülle
des Lebens, sein
unsteter Gang,
der endliche,
stockende Takt
unsres Fußes, der stolpert,
ausrutscht auf dem Nichts,
der Geschichte
menschliche Seite.
„Wenn es passiert,
ist dir nichts mehr sicher,
auch nicht für kurze Zeit,
und es gibt kein Mittel,
da rauszukommen,
der Faden der Ehre
zerreißt, du glaubst
nicht mehr an dich,
an deine Gaben:
du treibst dahin.
So ging
ich unter,
denn stärker
als der Hochmut
war die Nachgiebigkeit,
stärker als die Selbstachtung
die Selbstverachtung
und stärker als der einstige Stolz
die Scham, ja, die Scham.
Die Angst vor der Welt
beraubte mich
meines Willens.
Bis ich ihm begegnete
und deutlich
das Bedürfnis spürte,
Zuneigung zu erhalten
und zu erwidern.
Und gerade als alles
schon abgeschlossen schien,
als ich ertrank in meinem
schmerzlichen Hohlraum,
hab ich auf einmal mit der Kraft
einen ungeahnten Sinn
im Leben
wiedergefunden.“
Ich erschrak,
als ich mit seinem Schmerz
in Berührung kam,
ich fürchtete,
es nicht zu ertragen,
mich ihm gegenüberzusehn,
dem so jung schon
Verwelkten, Erloschenen,
und so kam die Angst
zu meinem heftigen Erschrecken
hinzu. Doch nachdem
das Entsetzen überwunden war,
nach dem ersten Schock,
hab ich mich bereit gefunden,
das Gegebene anzunehmen,
wenn auch unter Qualen
und ohne jede Lösung.
Als liebend Geliebter
erkennend, daß mir
als grausame Gunst
die rohe Galle
des Überlebens
zugesprochen wurde,
fühl ich mich ohne Halt,
von diesem Urteil
betrogen, unzufrieden,
übervorteilt, weil jeder
Voraussicht entgegen
ich derjenige sein soll,
der unversehrt davonkommt.
Ihn nehm ich nun
als Sohn:
er wird für mich sein,
wie du gewesen bist,
ich werd ihn lieben
– ich verspreche es dir –,
sogar noch mehr,
wenn dies dir nicht
eine Lästerung scheint,
um deines Namens,
deines Gedenkens willen,
um deinem Wunsch
und deinen Gefühlen
nicht entgegenzuhandeln
und nicht nur deshalb,
nicht nur aus Schmerz
und Gewissensbissen,
sondern wirklich aus Liebe.
Dies war
mein größter Irrtum.
Warum hab ich gewartet,
bis mir sein Anblick
das Herz bricht,
um ihm laut zu sagen,
daß nichts anderes zählt
als das, was er spürte
und leidenschaftlich gab,
wen auch immer er liebte?
Das ist, was ihn gerettet,
ihm Leben geschenkt hat,
bevor er getroffen
und zerrieben wurde.
„Nicht weil ich einen Rat
oder eine Erklärung von dir wollte,
verfolgte ich dich begierig
bis in dein Arbeitszimmer,
mir war auch nicht wichtig,
was über mich gedacht werden könnte.
Ich wollte eine Umarmung,
ich suchte dort
Bestätigung.
Ich deckte
die glühende Lava zu,
die in mir aufstieg,
ich tat, als ob
nichts geschehen sei,
ich schrie ohne Worte:
„Papa, hier ist dein Sohn.“
Wieviel verlorene Zeit,
ohne sich je zu sagen,
was zählt,
ohne Aufmerksamkeit
füreinander,
abgelenkt
von Belanglosem
in nichtigem,
jedenfalls
unwichtigem Handeln.
Vielleicht gar vermutend,
der ewige Aufschub
sei irgendwie
großzügig,
dabei jedoch einen Teil
des Lebens vergeudend
in läppischen Untaten,
von Ankunft träumend
und wiederholtem Kontakt
und letztendlich
dem richtigen Moment.
Vor sich selber inzwischen
das Gute verschweigend,
das gekostet
und aus irgendeinem Grund
des Kopfes oder des Herzens
jedesmal verfehlt worden war.
Im fehlenden Bewußtsein
der Endlichkeit und damit
der begrabenen Freiheit.
Der geheime Ursprung,
mit einemmal erfaßt
und offengelegt,
die Quelle, der Spalt...
eines Selbstentwurfes
hin zum Besseren, Positiven.
Was da ist, wird
für dauerhaft gehalten,
dann wird es Gewesenes,
unverrückbar, beendet.
Doch einstweilen ist es
ein Geysir, ein borhaltiger,
schäumender Strahl.
Der mittägliche Traum,
die tief verspürte Freude,
auch wenn die Euphorie
zerfließt...
geheimnisvolle Berührung,
die alles
nach und nach
immer lauter
und aufgeregter macht:
zügellose Sucht.
„Wenn ich geheilt werde,
wieder umhergehen kann,
wenn ich stehn
und selbständig
von neuem
ausgehn kann,
wie es mir beliebt,
wohin ich mag.
Mir genügte schon
der kurze Weg
zum Zeitungskiosk,
trotz des Schnees,
der Gefahr eines Sturzes,
und welch strahlende Vorstellung
wäre das Abenteuer
einer ganzen Reise weiter weg,
einer eintägigen Odyssee
auf der Jagd
nach Unvorhergesehenem,
mit Rasten und Begegnungen,
Entdeckungen, Umwegen.
Ich würde irgendwo,
nur wegen des Geschmacks
und des Geruchs,
eine Tasse Kaffee trinken,
sitzenbleiben
und den Rauch
der Zigaretten schnuppern.
Mit dem Gemüsehändler
würde ich ein wenig plaudern,
dabei die Farben
in all den Kisten
mit Obst und Grünzeug betrachten
und in der Hand
die vollkommenen Formen fühlen.
Ich würde die Straße entlang
Zeit vertrödeln,
die Spur meiner Katze
ausfindig machen,
die kalte reine Luft
einatmen
und noch ein ganze Weile lang
den Geschmack des Nebels
in kleinen Schlucken kosten.
Wenn ich geheilt werde...
durchquer ich von neuem
das schon Getane und Gesehene,
das Unermeßliche,
das ich erlebt hab.“
Doch alles ist
verloren, zu Ende,
hinabgeglitten am Abhang
der abgenutzten Zeit,
verschwunden, aufgelöst
im Riß
ohne Rückkehr
nach dem Abschied.
Geht man monatelang,
jahrelang die Stufen
des Lebens hinauf,
erlernt man
mit zunehmender Erfahrung
den Ritus des Kummers
und die Kunst des Sterbens
ohne Täuschungen:
man pflegt die letzten Augenblicke
am Kopfende des Bettes,
zelebriert den Schlußakt
des Hinausgehens
und versucht,
mit Hilfe des Verstandes,
ohne Hochmut,
der Schwäche der Organe
Würde zu verleihen,
der Beschädigung
der Gehirnfunktion
und der allmählichen
Zerstörung
jeglicher Lebenskraft.
Das ist ein Augenblick
der Begegnung, des Grußes:
sein Trost
inmitten des Schreckens
und der Trost
der Klage all jener,
die ihn liebten,
bevor sie
sich trennen
und jeder
seiner Wege geht.
Sie sind hier in der Schwebe,
und er dort drüben aufmerksam
im Dunkel, das ihn blendet,
jetzt jenseits der Schwelle
jeder Voraussicht,
auf der Kehrseite
seiner Medaille.
„Ich habe euch alle
ohne Worte gegrüßt.
Ich hab euch gedankt.
Ihr wart die Triebkraft
und der Grund
bei meinem Bemühen,
trotz aller Schmerzen,
die ich euch zugefügt habe
durch meinen wiederholten Fehler.
Ich habe gelernt, euch zu lieben,
das wißt ihr,
und mag euch noch immer:
ihr bleibt mir im Sinn
und im Herzen.
Doch ich entferne mich schnell,
ich löse mich ab von der Welt,
ich werde euch bald verlassen
und schaue nur noch nach vorn.
Ich kann nichts mehr sehen,
nicht einmal in der Gegenwart,
ich werde hochgehoben,
ich schwebe, ich fliege,
nicht gerade glücklich,
doch auch ohne Leiden,
nun angezogen vom Sprung,
in den ich stürze,
in den ich falle,
gefallen bin.“
Es ist nicht entsetzlich, nein,
wie er befürchtet hatte:
er liegt versunken
in sich selbst,
er läßt sich los und gleitet
in den Trichter.
Er wehrt sich nicht mehr:
es führt ihn etwas
nun endlich zum Frieden.
Schranke Damm Wasserscheide
– Insel und Brücke – Tunnel
Stollen Durchgang
da sickert hinüber
der ganze Rest
der Welt.
Unsichtbare,
eigenartige Naht,
sie angelt Angst,
sie ködert sie an,
und sichert Unversehrtheit zu.
Das doppelte Spiel:
Eingang und Ausgang,
Furcht und Vertrauen,
Halt und Bewegung.
Die Wahrheit öffnet und schließt sich
über dem Unbekannten.
Jetzt seh ich dich
nur von hinten,
als stiegest du
von einem Gipfel
immer weiter hinab,
voran auf engem Weg
zu dem Durchgang hin,
wo du verschwinden wirst.
Geh noch nicht weg,
bleib hier, halt inne.
Schon berührst du
etwas anderes,
an dem ich überhaupt
nicht teilzuhaben vermag.
So kannst du nicht sehn,
wie ich mit dir verbunden bin.
Was hast du es so eilig?
Warum nur? Bleib,
ich bitte dich, denn ich weiß,
du weißt nicht, daß ich
es bin, der den Diebstahl
ertragen muß.
Du bist die Luft
meiner Atemzüge,
Blut meines Leibes.
Was fang ich ohne dich
mit dem Leben an?
Welch finstere Aussicht,
welch klägliche Wirklichkeit
bietet sich mir dar,
die ich qualvoll zünde.
Doch dein Blick
ist woanders:
wo, ist nicht klar,
doch nicht hier in der Nähe.
Du starrst auf eine andre Welt,
kaum einen Schritt entfernt,
und doch weit weg,
so fern wie ein Stern.
Zerbrechlicher Spiegel,
Wand aus Angst,
darauf lagert
die Leere.
Sie gibt dem Pfeil
die Bewegung,
zur Seite gleitet
die zaghafte Hand.
Und die Welt gerät
in das Netz, dem Nebel
entnommen, zufällig
eingefangen
von den Strichen der Kreide,
die ritzt und knirscht,
die kriecht und kreischt,
ein Ungeheuer der Schrift.
So starrt aus der Tiefe,
aus starrer Finsternis,
die staubige Tafel
auf den Rand des Dings.
Ich war zugegen
bei seinem Fieberwahn
und hab ihm kaum
bestätigen können,
welche Bedeutung
für mich das Leben hatte,
das er gelebt hat,
und der zu rasche Flug,
den er im Rücken
der Welt beendete.
So teilte ich
sein Schicksal
bis zur Neige,
gab dem Tod seine Würde wieder
und verhinderte,
daß er allein war.
Einmal angenommen, man könne
noch weiterhin
anwesend sein,
wenn man dasitzt bei dem,
der schweigend seinen Weg
zu Ende geht,
und wirklich sprechen
mit dem, der durch innere Türen
hindurchzugehen scheint
auf einem anderen Pfad,
den sein Schicksal ihm vorgibt.
O Gott, verborgen,
doch vielleicht nicht fern,
ersehnt und gesucht,
doch nie entdeckt,
o geheimer Gott
von Herz und Geist,
der alles sieht und fühlt,
entziffert, zusammensetzt,
o erträumter Gott,
der du den schweren Schlaf
der Ungerechten schläfst,
welche Gestalt auch immer
du haben magst,
welcher Ort des Weltalls
dich auch immer enthält,
versunken, unendlich,
als festen Grund
auf Ewigkeit
in seinem Schoß,
du Ärgernis der Welt,
streck deine Hand aus
und halt ihn auf in seinem Sturz,
trag ihn davon
jenseits des grauen Grabens
unsrer Lieblosigkeit
und laß ihn schweben
in deinem heiteren Bienenstock
heraus aus dem Abgrund
in der Blüte deiner Blüte.
Was kommt danach?
Was wird geschehn?
Ein Zustand beständiger
Bewußtlosigkeit...
oder Leere...
oder, schlimmer, das Nichts...
Wer weiß, vielleicht
erlaubt uns eine andere
Art und Weise des Fühlens,
neues Leben zu spüren,
vom Tode erweckt.
Die Kraft, die sich bläht,
drängend,
verlängert
wer weiß bis wohin noch,
das unangefochtene,
herrische Rasen,
heraufstolzierend,
voller Gewalt,
alle zerstoßenen
Teile zerbeißend,
die unangetastete Macht,
die ihn hinausdrängt
aus sich selber,
vorgebeugt,
aus dem Gleichgewicht,
im Spalt seiner offenen,
schwärenden Wunde,
die nie mehr vernarbt.
Überschwemmung
die trägt, biegt, zerlegt
von Ufer zu Ufer,
die sinkt und hüpft.
Woge, die erfaßt,
hereinbricht, sich verbreitet,
sich ergießt, zergeht,
die ausschüttet, die
zerstreut, die einhüllt,
verbindet. Bis sie
sich bricht und ruht,
verbirgt sie die getilgte
Gegenwart. Und unter
dem Stoß der Lawine
wird sie ausgerissen, entwurzelt
aus ihrer Schicht.
Der Körper ist flach,
ohne Spannkraft,
zum Seidenpapier
geschrumpft, das kurz
und leer wird,
nicht länger vom
Atem gestützt,
kein Herzschlag mehr,
der Atem angehalten,
nackt liegt er da,
entschwunden sein Wesen,
die Luft entwichen
aus der verlassenen Hülle,
die schon dem Nichts,
dem Nichtsein ausgeliefert ist.
Wohin ist er, herausgeholt,
gegangen, er ist gestorben,
und fortgeflogen ist
das Licht seines Blickes,
er ward im Augenblick
glanzlos und grau,
die Augen leer,
ohne Pupillen.
Sein Leben erlosch,
vorüber
der Sturm.
Ob er noch fühlt
oder nicht... Er erreicht
einen anderen Zustand,
da er der Gewalt
des Schmerzes
entglitt
ins ruhige Dunkel
eines Äußeren,
das sich schon verlor,
bevor
er hinging.
Was bleibt uns?
Außer dem Verlust,
dem Verstümmeltsein,
das wir ertragen müssen,
zusammen mit dem
Schuldgefühl,
weil wir nicht taten,
was wir konnten.
Mit dir ist ein Teil
unsrer selbst gestorben,
denn ohne es zu wissen,
waren wir Mittäter
fast jeder deiner Handlungen,
weil dein Leben
unser Leben war.
O geliebter Sohn,
durch die Liebe
schließlich erkannt,
voller Qualen
und heimlicher Gaben.
Welch finsteres Erbe,
welch bittere Gefühle
müssen wir Ahnungslosen
nun auf uns nehmen.
Wir Glühenden Späne,
wie du uns tauftest,
erschienen dir nun
– wenn du uns sähest –
als erloschene Stummel,
denen höchstens bevorsteht
– das hoffen wir –,
wieder Feuer zu fangen,
ein wenig zumindest,
trotz aller Trauer,
mehr wegen der Freude,
die du noch gekannt,
als wegen der Feier, die
du uns bereitet hättest.
Der Frieden nach
entfesselter Wut.
Auf seinem Unglück
liegt er, der Pestkranke,
dem Leben verlorengegangen.
Nach gefälschten Gesetzen
verurteilt. Ohne Gnade
der Folter unterworfen,
enthäutet.
Das ist durchaus nicht
die biblische Plage,
das ist nicht die Strafe
für das Böse der Welt,
das ist keine Sühne, sondern
ein gräßliches Verbrechen,
gleichgültig greift
die Natur die Menschen an,
und dafür leidet
in den entscheidenden Jahren
ihres Lebens
die große Schar
ohne Schlechtigkeit
der Jugendlichen,
die fortgetrieben werden,
unter dem schwarzen Mantel,
wegen unklarer Schuld,
Aufschwung und Enttäuschung,
Frucht ihres Alters,
und wegen der Verwirrung
der Rollen und Ziele.
Völlig wehrlos
alleingelassen,
nicht fähig zum Widerstand
gegen so mächtigen Angriff,
schon in der Gewalt der Krankheit,
des tückischen Feindes,
der, schrecklicher Betrug,
sich verkleidet und sich
als etwas anderes ausgibt,
wenn nötig zurückweicht
vor dem, der ihn jagt,
und also unversehrt
in aller Niedertracht
auf Raubzug geht
und im Verborgenen
gnadenlos wütet.
Zweischneidiger Zustand
der Natur,
ihr Doppelwesen
als Schild und als Feind
ist Quelle der Heilung
und tödlicher Gefahr,
und soviel sie uns gibt,
soviel nimmt sie dafür
zurück. Sie schenkt
uns nichts, was sie uns nicht
schon abgenommen hätte.
Die Kunst der Zweideutigkeit,
dieser Brückenkopf,
sie führt uns zurück
von ferner Vergangenheit
in zukünftige Zeit.
Ihrem Innehalten stellt sie
Bewegung gegenüber,
die Fülle der Leere,
das Positive
dem Negativen,
jeder Aktion
eine Reaktion,
gleich und entgegengesetzt.
Sie spornt uns zu Antworten an,
die uns retten sollen
in jenem Umfeld,
das sie geschaffen hat:
dazu kommt das Risiko,
die Herausforderung
unsrer Unantastbarkeit.
Sie verdirbt uns zum Teil,
um uns als Ganzes zu retten.
Sein Leben
ist nicht länger
im Körper,
jemand hat es
ihm entzogen.
Es ist jetzt woanders,
hoch oben in der Luft,
schwerelos schwebt es,
entfernt sich
unversehrt
von der Schale, in der
es gefangen war.
So bleibt noch
für wenige Stunden
diese Hülle von uns,
zusammengezogen,
zutiefst entblößt,
von schmutzigem Weiß,
so dunkel
wie Wachs.
Der Lebensgeist,
der das Innerste
der Gewebe durchtränkt,
sie pulsieren läßt und ihnen
einmütige Kraft verleiht,
hat sie verlassen,
er ist verflogen, fährt nun
auf welchen Meeren?
Die fliehende Seele
hat ihn hinausgezerrt
noch vor dem Angriff,
der innen um sich griff
und alles zerriß.
Schande und Schmach
einer Natur, die uns
gleichgültig entstellt,
bis selbst unsre Lieben
uns nicht länger
erkennen.
Welche Würde,
welche Bedeutung
mag ein dermaßen
verunstaltendes Tun
wohl besitzen?
Der boshafte Räuber,
von innen her kommend,
umschlingt, umklammert
hartnäckig
mit gewundenen Armen,
mit den Haken
der Tentakel,
am dunklen Grund,
Blutegel der Gewebe,
Sprengkörper, Parasit,
geräuschlos verschlang er
inzwischen das Leben,
vom Herzen bis zu
den letzten Grenzen,
zerstörend,
begierig beißend,
verderbend,
ans Innerste
die Hölle heftend.
Grausame Klaue,
ergebene Klinge,
grobe, die gräbt,
sich schlingt, sich verfängt,
in Glut und Eis verwandelt,
in ihren Armen
das harte Schicksal
vermehrt und verzehrt.
So schwer es mir fällt,
mir wird bewußt,
daß ich trotz allem
jetzt zufrieden bin,
weil er sich endlich
dem arglistigen, unbarmherzigen,
erniedrigenden Leiden
entzogen hat,
das ihm Körper und Geist
verwüstet hat,
vom Schmerz betäubt,
von der Flamme verbrannt,
die ihn Tag für Tag
auslöschte, auswusch
bis in die gesunden Schichten
der Jugend.
Aber daß ich das Drama
erkannte, bedeutet nicht,
daß ich es hingenommen habe.
Es war kein Trost
in meinem Zweifel
zu wissen: zuweilen
ist die einzige Rettung
für den Menschen, den du liebst,
der Tod.
Er ging hin,
von dem verfluchten Leiden
überwältigt, beraubt,
beschädigt,
geschmäht,
inmitten derer,
die ihm beistanden,
der Freunde, der Zeugen
von Geben und Erhalten,
Garanten des Vergangenen
und der Ehrfurcht, die selbst
ein schmutziger Tod
den letzten Zuckungen
und schmerzlichen Krämpfen verleiht.
Sie, die Lebenden,
sind nun Waisen dessen,
was er vielleicht geworden wäre
und was jetzt verloren ist,
und zugleich
erwachsene Erben
des Schatzes seiner Liebe.
Womöglich ist
die Seele unsterblich:
gleichviel welchen Weg
sie geht, es gelingt ihr,
das unendliche Leiden
unversehrt zu überstehen,
das sie erduldet hat,
nicht reglos zu verharren,
benommen vom wirren,
abscheulichen
letzten Geschäft.
Wohin sie auch kommt,
hinauf oder hinab,
sie geht nicht verloren
beim Sturz in den Wahnsinn,
sie wird kein Opfer
der Bewußtlosigkeit.
...der langsame Abstieg
in Spiralen
dem Vergessen entgegen,
das sinkende Licht,
das sich trübt
zugleich mit dem Atem,
das Gehirn,
das stirbt
und das Ich verschlingt...
Jenseits des letzten Aufgebots
und der verlorenen Schlacht
beim Versuch
des Widerstandes
gegen die mutmaßliche Kränkung
unter der eisernen Führung
des Überlebensinstinkts,
hat die Rückreise
vom Gipfel des Lebens
schon begonnen und
bewegt sich langsam
zum Anfangspunkt:
dem unbestimmten Zustand
– des Vergessens
oder Nichtseins? –
noch bevor
er gezeugt wurde.
Man weiß nicht wie
und wann. Jedoch
kann es sein,
daß man am Ende
nicht aufhört
zu sein und daß
eine neue Form
der Wahrnehmung
der Zustand ist,
der uns erwartet.
Der Körper stirbt,
doch das Bewußtsein
stirbt vielleicht nicht.
Es wächst und verstärkt sich
gerade dann,
wenn sein Behälter
auf dem Weg
des fortschreitenden
Verfalls vorrückt,
und selbst im Moment
der Loslösung von ihm
bleibt es nicht stehn
vor der Mauer der Abwesenheit.
Das Warten auf Zukunft
hört nicht auf.
Oh, der moderne Tod,
verheimlicht, bereinigt
vom Zerfall,
veräußerlicht, begrenzt,
im Krankenhaus versiegelt,
sterilisiert, scheinbar
ohne Gestank und Lärm,
aus Angst aus den Reden
gestrichen, ausgewiesen,
verbannt, ausgesetzt,
verdeckt, entfernt,
im Interesse des Hauses,
jedes Wertes beraubt
und doch gegenwärtig
jenseits der versuchten
Verleugnung:
Einhalt und Einschnitt,
unverrückbare Grenze
für das, was sich nicht beugt
und seine mächtige innere Flamme
dagegensetzt.
Wie soll man schweigen
und weiter so tun, als ob man
die Wunde nicht sähe,
wenn man nur fürchtet,
sie sei vorbei...
laß dich nun gehen
und verurteile dich
zum Dahintreiben.
Die starke Angst
vor dem Begräbnis
ist überwunden,
das Schreckbild der Gruft,
wo das Selbst nicht lebt,
jetzt heißt es, die Klinge,
die den Faden zerschneidet,
anzuschauen,
sie nicht länger als Drohung,
als Schande anzusehen.
Um sich zu versöhnen
mit den unwandelbaren Zyklen
und sich das eigene Schicksal
wieder anzueignen.
Denn die Trauer
ruft nach dem Leben,
nicht nach weiterem Tod.
Daß alles tot
umfällt, um wieder
aufzuerstehen,
daß alles zerfällt, um wieder
neu zu entstehen.
Das ist der Sieg
des Lebens, das sich fortsetzt,
während es begraben wird.
So wie uns der Weg
bereitet wurde,
bereiten wir ihn
unsererseits
und sterben,
damit ein anderer lebt
zu unserm Nachteil
und Ruhm.
An die Stelle
jeder Generation
tritt die nächste:
Geschichte, die sich
in einer anderen fortsetzt,
nie abgeschlossene Folge.
Doch die Fortsetzung
kann aufhören,
zuerst beeinträchtigt
und dann verhindert,
auf jeden Fall zerstört werden,
wenn es die Jungen sind,
die sterben,
und niemand mehr
sie ablöst.
Der Kreislauf wird umgelenkt
und weicht vor dem verrückt
gewordenen Gesetz.
Falschspielen
ist möglich,
doch sehr begrenzt,
man kann mit allen Mitteln
die natürlichen Grenzen
des Lebens
zu verschieben versuchen.
Der Preis
für diesen Vorteil
ist die Wunde,
die nicht vernarbt,
die trockene Ader
voll Silikon.
Das Flämmchen verlöscht,
das ist unumgänglich,
der Apparat verkrustet,
ermattet langsam,
verbraucht, verrostet.
Doch die Kunde
der unsterblichen Götter
ist eine Einladung,
nicht enden will
der Traum der Erneuerung
des versiegten Saftes,
der Behebung
des unvermeidlichen Schadens,
einstweilen mit Hilfe
von Chirurgie
und Vitamin.
Strahlende Alte,
Spiegel äußerster Kraft
der Loslösung,
zugegen und doch
schon fern des Lebens,
am Rand des Abgrunds,
ohne Halt,
Zeugen der Zeit
und ihrer ewigen,
unendlichen Verheißung,
ohne Ängste, offen,
großmütig schenkend
bis zur Verschwendung,
Blut und Atem,
Stimme der Welt,
süße Gesellschaft
für die wenigen Kinder,
die ihre eigenen Kinder
auf den Weg geschickt haben.
Gierige Alte,
dürstend nach Macht,
bemüht, die Fäden der Intrige
in der Hand zu behalten,
taub für alle Vernunft
der Nachfolge,
festgeklammert
an ihre zu welchem Preis
eroberten Stellungen,
die sie verdorben,
zum eigenen Besitz gemacht,
und dann mit allen Mitteln
gehalten haben.
Spiegel ihrer selbst, feindselig
oder gleichgültig gegenüber
Erwartungen und Sehnsüchten,
mit Ratschlägen geizend,
zufrieden und überzeugt,
nicht überholt zu sein,
dazu neigend, sich für ewig
und einzigartig zu halten,
an deren Stelle niemand tritt,
dazu getrieben, den natürlichen
Stoffwechsel zu behindern
und aus reiner Anmaßung
die Anwesenheit und die Rechte,
die guten Eigenschaften
der Jungen zu leugnen,
ob sie nun ihre Kinder sind oder nicht,
sie auszuschließen, ihnen die Flügel
zu beschneiden, sie zurückzuweisen,
im Stich zu lassen.
Nein, ohne den Tod
gäbe es weder
Schicksal noch Fügung.
Das Leben liefe dahin,
nicht länger bis
zur festgesetzten Grenze,
jedes Sinnes beraubt,
dazu verurteilt,
in völliger
Gleichgültigkeit,
wenn auch im langen Schritt
der Unermeßlichkeit,
gelebt zu werden.
Wenn ich weiß, daß ich sterbe,
und daß mit mir
der ungeheure Vorrat
meines Bewußtseins
verbrennen kann,
dann wird mein Tun
tatsächlich
bedingt, jedoch
auch erhellt
von der Offensichtlichkeit
der befreienden Einzigartigkeit
jedes Augenblicks,
der verfließt und vergeht.
Das ist der Stachel,
der vorwärtsdrängt, antreibt,
ohne Ruhe zu lassen,
der Ansporn der Trauer.
Das ist das Hindernis,
gegen das man alles versucht,
um das Beunruhigende
des plötzlich Unbeseelten
aufzuschieben,
die Angst,
den Zustand, der mehr bestürzt
als das Ausgelöschtsein,
um die Furcht, die ausgeht
vom vernichteten Sein,
hinauszuzögern,
um die Zeit zu täuschen,
die in die Vergangenheit geht
und die Tore ihres
zukünftigen Schicksals
verriegelt, verrammelt.
Ohne den Tod
gäbe es nichts,
weder Gesellschaft
noch Geschichte,
keine Zukunft
und keine Hoffnung.
Er ist die notwendige
Bedingung für
das Überleben
der Gattung.
Auch wenn
diese Erklärung
nicht ganz überzeugt,
nicht die Erwartung
des Menschen befriedigt
im Hinblick auf
jedermanns Forderung,
daß er in Wirklichkeit,
immer und auf jeden Fall
das ist, was bleibt.
Das Ich auf der Hut,
sich gegenüber
gehemmtes Hindernis
auf der Fährte
der aufgespürten Tatsache.
Jedoch auch Schlüsselloch,
offener Spalt
zum Ungeahnten:
daß nämlich im Seichten
die Tiefe sei,
im Endlichen
das Unbegrenzte,
das fortwährend stirbt
und doch schon neu geboren wird.
Das Bild, verschieden
vom Eingebildeten.
Im Spiel von Unterschied
und Identität
enthüllt sich das Wenige
an Wahrheit, in der Entdeckung,
daß die bekannte Welt
keinesfalls die einzige
Wirklichkeit ist.
Hinter einem Schirm
oder mattem Glas
von kaum milchiger
Körnung
nimmt man den Schatten wahr,
der die Form zerstört,
die nie fertig ist,
ohne Konturen,
nur einen Augenblick lang,
bevor sie einstürzt
als leere Gestalt.
Alles, was ich nicht sehe,
veranlaßt mich
zu glauben,
daß etwas von uns
erhalten bleibt.
Der feinste,
luftigste Teil
fliegt fort
und findet den Pfad,
der hinführt
zum Garten
auf der Kehrseite der Welt.
Und dort, im hintersten Winkel,
wo für unser Auge
das Leben endet,
wie der Tod es fügt,
da fließt ein breiter Strom
der Energie,
der jenseits der Tore
das Ewige ausgießt
in die Gegenwart.
Dort angekommen,
in höchster Höhe,
im bewußten Glanz
des Lichtes,
taucht dieser Teil
ins Meer der Süße
und findet auf einmal
den vollkommenen Frieden.
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