PAOLO RUFFILLI wurde 1949 geboren.
Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht, darunter Piccola colazione (1987, American Poetry Prize,Kleines Frühstück, Verlag im Wald, 2004), Diario di Normandia (1990), Camera oscura (1992, Dunkelkammer, Verlag Im Wald, 2002), Nuvole (1995), La gioia e il lutto (2001, Prix Européen, Freude und Trauer, Verlag Im Wald, 2003), Le stanze del cielo (2008, Die Zimmer des Himmels, Verlag im Wald, 2008), Le stanze del cielo (2008), Affari di cuore (2011), Natura morta (2012), Variazioni sul tema (2014; Viareggio Award), und Roman Preparativi per la partenza (Marsilio, 2003), Un’altra vita (Fazi, 2010), L’isola e il sogno (Fazi, 2011).
Er hat Biographien von Ippolito Nievo und Carlo Goldoni verfaßt.
Er hat Leopardis Operette morali, Foscolos Übersetzung von Laurence Sternes Sentimental Journey, Nievos Confessioni di un italiano und eine Anthologie von Scrittori garibaldini herausgegeben. Er hat Gibran, Tagore, die englischen Metaphysical Poets und die Himmlische Regel des Tao übersetzt.
Ont écrit sur la poésie de Ruffilli : Alberto Asor Rosa,
Luigi Baldacci,
Roland Barthes,
Yves Bonnefoy,
Robert Creeley,
John Deane,
Dario Fo,
Giovanni Giudici,
Alfredo Giuliani,
James Laughlin,
Pier Vincenzo Mengaldo,
Czeslaw Milosz,
Eugenio Montale,
Alvaro Mutis,
Cees Nooteboom,
Giovanni Raboni,
Vittorio Sereni,
Andrea Zanzotto.
FUNDSTÜCK DES SCHMERZES
Das schöne Zitat von Roland Barthes, das Ruffilli diesem
Buch als Motto vorangestellt hat, kann dazu verleiten (und
hat mich auch flüchtig dazu verleitet), einen
eigenartigen "optischen" Irrtum zu begehen. Einige
Augenblicke lang habe ich angenommen, der Titel von Ruffillis
Buch sei durch Umkehrung von dem des Barthes'schen Buches
abgeleitet worden, aus dem das Zitat stammt: Dunkelkammer
also anstelle von Die helle Kammer. Natürlich hat der
Verstand sogleich den Irrtum behoben: so ist es nicht gewesen,
vielmehr in gewissem Sinn genau umgekehrt; der Titel Barthes'
dreht etwas um, nämlich einen geläufigen Ausdruck,
während jener Ruffillis diesen Ausdruck wieder auf die
Füße stellt und zur semantischen Norm zurückführt
(wenn auch, das versteht sich, nicht ohne einen Hof der Mehrdeutigkeit).
Es bleibt also das Zitat als solches, die tatsächliche
Bedeutung des Barthes'schen Satzes, den Ruffilli ausgeschnitten
und musterhaft eingerahmt hat als Ermahnung an sich selbst
und an die Leser. Darin fallen sofort der Ernst und die Dringlichkeit
dieser Bemerkung auf: "Für euch wäre es nur
ein nichtssagendes Photo (...) für euch bedeutete es
keine Verletzung."Der Bezug ist ebenso ausdrücklich
wie erhellend, auf subtile Weise erhellend. Die Dunkelkammer
ist in Wirklichkeit die geduldige, minuziöse Rekonstruktion
eines Familienromans mit Hilfe der "Zeichen", der
"Daten" (ich finde diese Wörter im Text), die
eine Anzahl von alten Photographien - aus einem Album oder
aus mehreren - beinhaltet. Hier kommt es nicht darauf an zu
sagen, um welchen Roman es sich handelt; schon der Ausdruck
"Familienroman" deutet, ob man es will oder nicht,
einen Wirrwarr aus Mitleid und Grausamkeit an, aus Hineinversenken
und Distanz, jedenfalls ein Gewirr, ein Geflecht, unabhängig
vom materiellen Gehalt, vom Kern der Angelegenheit. Wichtig
scheint mir dagegen, darauf hinzuweisen, wie breit das Spektrum,
wie weit der Ausdrucksbereich ist, innerhalb und mittels dessen
die Nachforschung zur Partitur wird, die Rekonstruktion zum
Gedicht; das Ausmaß dieser Nachforschung zeigt sich,
wie ich meine, gerade im Abstand zwischen der "Verletzung",
von der Barthes (und vermittels seiner Ruffilli) spricht,
um in Abrede zu stellen, daß andere als das Subjekt,
die erste Person, sie erleiden, und der Entscheidung zur Neutralität,
Objektivität und Trockenheit, die auf den ersten Blick
als die vorherrschende Tonalität in Ruffillis Text erscheint.
Ich will damit sagen: die Bahn der in diesen Seiten eingeschlossenen
Ausdrucksgeste - symmetrisch dazu sind diese Seiten deren
Ausweitung, deren "Körper"verläuftvom
Erkennen, von der Feststellung, daß eine Verletzung
vorliegt, welcher Art sie auch immer sei (und vorher noch
von ihrer Suche, ja, der Suche nach dem Schlag, der sie zugefügt
hat), zu ihrer symbolischen Vernarbung, zum Ritual ihres Austrocknens
durch Handhaben der Sprache.
Aber in der Dichtung gibt es bekanntlich keine Zeit, besser
gesagt: es gibt nicht den "Pfeil" der Zeit,ihre
Unumkehrbarkeit, wie es sie auch in den Träumen nicht
gibt; deshalb kann die soeben beschriebene Bahn genausogut
in der umgekehrten Richtung gesehen werden (und wird auch
gewiß in der Wirklichkeit des Lesens so gesehen), das
heißt in der Richtung, die vom Vernarben der Verletzung
zu ihrer Entdeckung führt, von der Normalisierung des
Schmerzes zu seinem Anfang. (In jedem poetischen Text ist
übrigens die Auffindung des Kreuzes gleichzeitig End-
und Ausgangspunkt jeder möglichen Metapher der Passion.)Ein
leidlicher Kenner der italienischen Dichtung dieses Jahrhunderts
erkennt bald in den Versen Ruffillis die Fortdauer einer edlen
Tradition, die aus raffinierter Armut besteht, aus zusammengezogener
Musik, fast an der äußersten Grenze der Hörbarkeit,
und ihren höchsten Bezugspunkt in der Lyrik Giorgio Capronis
hat; und er wird dann an gewisse auch thematische Berührungspunkte
zwischen dem in Dunkelkammer vorliegenden Familienroman und
dem unvergeßlichen Roman Anninas, Samen des Weinens,
denken. Aber ebenso leicht und gewiß ebenso angebracht
ist es festzustellen, wie Ruffilli sein Wort- und Gefühlsmaterial
mit einer Art Zähigkeit
und "wissenschaftlicher" Gleichmütigkeit bearbeitet,
die bei Caproni nicht zu finden sind und für welche die
dem photographischen Bild eigene Starrheit sowohl einen Beweggrund
als auch ein formales Gegenstück abgibt.
Mehr jedoch als diese heraldischen Abschweifungen zählt
die Arbeit Ruffillis an sich, ihre innere, zwanghafte Kohärenz.
Ich glaube, daß Ruffilli viele Gründe, und gewiß
jedes Recht hat zu behaupten, der Mittelpunkt seiner Nachforschung
sei, um ihn zu zitieren, "das Datum, nicht jedoch / Erinnerung
oder Sehnsucht / nach dem, was war". Das Datum, das Zeichen,
gewiß - beim Aussprechen fast mineralisch geworden,
wie fossile Fundstücke aus einem anderen Zeitalter, dem
längst vergangenen oder zukünftigen Zeitalter des
Schmerzes.
Giovanni Raboni
Paolo Ruffilli, Dunkelkammer /
Camera oscura, Rimbach: Verlag im Wald 2002
Bis zur Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
(es genügt an die Erfolge Benns und Brechts zu erinnern)
spielte Lyrik in den Programmen der großen belletristischen
Verlage keineswegs wie beute eine ausschließlich marginale
Rolle, und bis vor wenigen Jahrzehnten erschienen etwa bei
Suhrkamp und Piper regelmäßig sorgfältig betreute
zweisprachige Ausgaben angelsächsischer oder romanischer
Dichter. Das ist Vergangenheit. Umso erstaunlicher und bewundernswerter
sind die Initiativen des 1943 in Trier geborenen, beute in
Rimbach ansäßigen und unweit der tschechischen
Grenze am Gymnasium in Kötzting als Lehrer für Englisch
und Französisch tätigen Rüdiger Fischer. In
dem von ihm gegründeten Verlag im Wald sind inzwischen
mehr als fünfzig Titel, u.a. mehrbändige Anthologien
zeitgenössischer französischsprachiger Dichtung,
aber auch einige Werke italienischer Lyriker in zweisprachigen
Ausgaben erschienen. Sie werden editorisch akribisch betreut
und in ansprechender bibliophiler Aufmachung veröffentlicht.
Dies gilt auch für den hier anzuzeigenden, von Tobias
Burghardt und Rüdiger Fischer ins Deutsche übersetzten
Gedichtband. (Er wurde1992 bei Garzanti in Mailand in der
Originalfassung publiziert). ;
Paolo Ruffilli, 1949 in Rieti geboren, aber seit 1972 in Treviso
lebend, nimmt inzwischen im Rahmen der italienischen Lyrik
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einen
festen Platz ein, wie seine Aufnahme in die 1996 von Maurizio
Cucchi und Stefano Giovanardi für Mondadoris Klassikerbibliothek
/ Meridiani herausgegebene repräsentative Anthologie
Poeti italiani del secondo Novecento 1945-1995 dokumentiert.
Außerdem belegen zahlreiche kritische Stellungnahmen
namhafter Literaturwissenschaftler und Dichterkollegen zu
seiner sich inzwischen über drei Jahrzehnte erstrekkenden
lyrischen Produktion, angefangen von La Quercia delle gazze
(1972) bis za La gioia e il lutto. Passione e morte per Aids
(2001) den Sachverhalt.
Die italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts steht spätestens
seit Camillo Sbàrbaros Pianissimo (1914) und Montales
Ossi di seppia (1925) im Zeichen einer expliziten oder impliziten
Absage an die von den ,,poeti laureati" am Leben gehaltene
Tradition sprachlicher und stilistischer Erlesenheit und rhetorischer
und prunkvoller Wort- und Satzgebilde. An ihre Stelle rückte
die Suche nach kargem und wesentlichem Ausdruck, nach wissenschaftlicher
und schmuckloser Exaktheit, freilich ohne Verzicht auf eine
sorgfältige Komposition von Vers und Strophe.
Camera oscura ist vom Verfasser den Eltern gewidmet. Aus gegebenem
Anlaß, da im Hauptteil in kurzen Versen (in der Regel
handelt es sich um Fünf- oder Siebensilber) in 8 x 4
jeweils durch eine knappe reflektierende Komposition getrennten
Gedichtsequenzen insgesamt 32 Photographien eines Familienalbum
beschrieben und dann jeweils vom lyrischen Ich kommentiert
werden. Nicht um elegisch-gefühlvolles Schwelgen in den
Bildern der Vergangenheit geht es dabei, vielmehr um die oft
durch scheinbar unwesentliche Details und Gesten der auf den
Bildern festgehaltenen Gegenstände und Personen aufgeworfenen
Fragen sowie die durch sie ermöglichte und von C.E. Gadda
in seinem berühmten Romanfragment bereits im Titel thematisierte
"Erkenntnis des Schmerzes" oder um es in den Worten
von Ruffillis letztem Gedichtband auszudrücken: um ,,Freude
und Trauer" menschlichen Daseins.
Paradoxerweise schärfen gerade die auf den Photographien
festgehaltenen Augenblicke in ihrer scheinbaren Endgültigkeit
das Bewußtsein des sich erinnernden Betrachters
hinsichtlich des unaufhaltsamen Zerrinnens der Zeit: Mi balenò,
a sei anni, / la prima volta / l'idea dell'inarrestabile /
declino, il correre / di tutto a un punto morto. -
Mit sechs Jahren / überfiel mich zum ersten Mal / die
Vorstellung, daß alles / unaufhaltsam verfällt,
/ auf einen toten Punkt zuläuft. (S. 94/95).
Johannes Hòsle
"Zibaldone", 36
"0h, der moderne Tod,..."
Paolo Ruffilli: Freude und Trauer / La Gioia e il Lutto, Leiden
und Tod durch Aids. Gedichte
Auf der Bühne der Welt liegt ein junger Mann. "Jetzt
verloren, / auch in diesem Bett, / zusammengerollt / unterm
weißen Tuch, / abgezehrt, ergeben / auf der Seite
liegend." Nur noch ein Schatten dessen, der er einmal
gewesen ist. Abgemagert, in zu weiten Kleidern, gealtert,
obwohl in der Blüte seiner Jahre, verwelktes Leben.
Die Rollen sind vertauscht: "die Väter begraben
/ die Söhne, sie kümmern sich / um das verlorene
Leben, / sie halten die Verletzten / in ihren Armen"
und wachen bei den
Sterbenden. Sterben durch Aids. In Italien hat dieser Gedichtband,
eigentlich ein einziges mehrstimmiges Gedicht, über dieses
unbarmherzige Leiden großes Aufsehen
erregt und Übersetzungen in andere Sprachen nach sich
gezogen. Möglicherweise ist Paolo Ruffilli (geboren 1949),
Dichter, Hochschullehrer und Übersetzer aus Treviso
im Veneto, durch seine Tochter, der auch das Buch gewidmet
ist, in nahere Berührung gekommen mit diesem aidskranken,
bereits Sterbenden jungen Mann. In seiner
großen Anteilnahme nimmt er ihn an wie einen Sohn. Ihm
gelten Schmerz und Liebe. Sie verwandelt sich von der anfänglichen
Bestürzung in ein Nachdenken über das
Ewige, über den Sinn: "Nein, ohne den Tod / gäbe
es weder / Schicksal noch Fügung./ (...) / Ohne den Tod
/ gäbe es nichts, /(...) / keine Zukunft / und keine
Hoffnung. / Er ist die notwendige / Bedingung für das
Überleben". Und er festigt die Erkenntnis, "dass
die bekannte Welt / keinesfalls die einzige / Wirklichkeit
ist."
Selbst wenn die äußere Form zerstört ist,
bleibt etwas übrig, etwas fliegt fort, als Keim in den
Garten "auf der Kehrseite der Welt."
Paolo Ruffilli hat dieses Buch seiner Tochter und allen Kindern
auf der Welt gewidmet: " > In Wahrheit / wird letzten
Endes, / bei Geburt und Tod, < hat meine Tochter /
weinend zu mir gesagt, / >die Wurde des Lebens / auf der
Welt / nicht im Geringsten beachtet.<"
Brigitte Espenlaub
Paolo Ruffilli: Freude und Trauer
Fischer, Verlag im Wald, Rimhach- 2003
71/2003
Z e i t s e h i f t
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